Veröffentlichungen und Aufsätze von Emil Krebs

Nachrufe und Hinweise von Zeitzeugen (z.B. Prof. Eduard Erkes und Prof. Ferdinand Lessing) bedauern, dass von Emil Krebs außer "Chinesische Schattenspiele" keine Veröffentlichungen bekannt seien. Man hoffe jedoch, dass in seinem Nachlass noch Schriften von ihm enthalten sein könnten. Die umfangreichen Recherchen ab 2005 waren auch in dieser Hinsicht erfolgreich. Hier sei auch die Hilfe seitens Frau Yianan Yan im Jahr 2016 besonders erwähnt und ihr ausdrücklich gedankt. Frau Yan von der Pekinger Fremdsprachen-Universität weilte anlässlich der Erstellung einer Masterarbeit über Emil Krebs mehrere Monate in Deutschland und fand im Rahmen ihrer Recherchen in der Deutschen Staatsbibliothek Berlin weitere Veröffentlichung von Emil Krebs.

Nachfolgend die bis 2016 entdeckten und inhaltlich kurz skizzierten Veröffentlichungen und Aufsätze des Polyglott Krebs:

 


Abschriften zu Veröffentlichungen oder Aufsätzen:

Über das Chinesisch Lernen
von
Legationsrat Emil Krebs

Sonderabdruck aus Heft 1 und 2 des China-Archivs III. Jahrgang (1918).

Seit meiner Rückkehr aus China ist mir aufgefallen, mit welchem Eifer vielfach das Studium des Türkischen in Deutschland betrieben wird, nachdem sich die Türkei im Kriege auf unsere Seite gestellt hat. Da diese Erscheinung doch zweifellos dem Wunsche und der Hoffnung entspringt, mit Hilfe der gewonnenen sprachlichen Kenntnisse dereinst in dem Lande oder in Verbindung mit unserem türkischen Bundesgenossen ein besseres Fortkommen zu finden, so brachte sie mich willkürlich auf den Gedanken, wie es dem gegenüber wohl kommen mag, dass von den vielen Deutschen, die seit Jahren ihr Fortkommen in China gefunden haben, nur so wenige den gleichen Eifer für die Erlernung der chinesischen Sprache zeigen.

Vermutlich wird mir geantwortet werden, das Chinesische sei zu schwer. Mancher wird auch sagen, es sei nicht notwendig, in China zum Fortkommen Chinesisch zu können, und dabei gerade darauf hinweisen, dass viele Deutsche in China zu Ansehen und Wohlstand gekommen seien, ohne von der chinesischen Sprache eine Ahnung zu haben. Dritte werden in dem Wahne, das sogenannte Pidschin-Englisch sei das Verständigungsmittel zwischen Chinesen und Ausländern, dieses anführen, und was die Gründe mehr sein mögen. Nun, über die Frage, ob für jemand, der in China zu leben genötigt ist, das Studium der chinesischen Sprache notwendig oder wenigstens nützlich ist, lasse ich mich vielleicht später einmal aus. In dieser Plauderei möchte ich nur auf Grund meiner über zwei Jahrzehnte reichenden Erfahrung darzutun versuchen, dass das Chinesische nicht von einer abschreckenden Schwierigkeit ist, dass vielmehr auch der linguistisch nur normal Begabte es darin zu einer nützlichen Fähigkeit bringen kann, wenn er nur den nötigen Fleiß anwendet, und gleichzeitig einige praktische Winke über den Studiengang geben. Bei diesen Betrachtungen seien von vornherein die Beamten des Dolmetscherstandes ausgeschlossen, deren linguistische Vorbildung seit Einrichtung des Seminars für Orientalische Sprachen von Reichswegen in durchaus zureichender Weise geregelt ist. Unsere Dolmetscher-Aspiranten, die den chinesischen Kursus im Seminar mit Erfolg durchgemacht haben, sind derartig vorbereitet nach Peking gekommen, dass sie vom ersten Tage an auf dem Gebiete der chinesischen Sprache nutzbringend verwendet werden konnten. Ich sehe darin einen unschätzbaren Vorzug gegenüber dem englischen System, welches seine Dolmetschereleven ohne chinesische Vorkenntnisse nach Peking schickt, damit sie dort mit dem Studium anfangen. Wer also beabsichtigt, in irgendeiner Lebensstellung für eine Reihe von Jahren nach China zu gehen und Gelegenheit hat, das Orientalische Seminar zu besuchen, dem sei dieser Besuch dringend angeraten. Die folgenden Bemerkungen und Winke gelten für solche, die, sei es in China oder in Deutschland, auf sich selbst angewiesen sind, und zwar für solche, die sich eine Kenntnis des Chinesischen in Wort und Schrift für praktische Zwecke aneignen wollen, nicht für fachgelehrte Sinologen.

Gehen wir nun zunächst zum Gegenstand über, der zu erlernenden chinesischen Sprache. Ist das Chinesische wirklich schwer? Gewiß! Und wenn jemand hört, daß die alte jetzt im Aussterben begriffene chinesische Gelehrtengeneration ein langes Leben fast ausschließlich darauf verwandte, die literarischen Erzeugnisse der eigenen Sprache zu studieren, verstehen zu lernen und den eigenen Stil daran zu bilden, so könnte solches wohl abschreckend wirken. Doch das Studium der Sprache der Klassiker, Philosophen, Historiker und Dichter ist ja nicht Gegenstand unserer Betrachtung. Wir wollen nur praktisches Chinesisch betreiben. Zu den höheren Stilgattungen mag derjenige später übergehen, der bereits Geschmack an der Sprache gefunden hat und sich zutraut, auch das Schwierigere zu meistern. Die Geschäfts- und Amtssprache ist bei dem geschäftlich nüchtern denkenden chinesischen Volke zum Glück einfach geblieben, ohne Schwulst. Dasselbe gilt von der Umgangssprache. Die Höflichkeitsfloskeln werden einfach als Vokabeln auswendig gelernt. Zudem kennt das Chinesische keine Wortbiegung (Flexion), keine Deklination, keine Konjugation, also auch keine unregelmäßigen Verben! Wer unter den Lesern z.B. Finnisch oder das Konjugationssystem des Georgischen kennt, wird diesen Umstand erst recht zu würdigen wissen. Selbst das Japanische, das nach der falschen Einbildung vieler Laien häufig mit dem Chinesischen zusammengestellt wird, weil es chinesische Schriftzeichen verwendet, während es in der Tat einer ganz anderen Sprachfamilie angehört, ist ungleich komplizierter, und es ist viel schwieriger, gut Japanisch zu sprechen als gut Chinesisch. Natürlich bedeutet diese Flexionslosigkeit nun nicht, dass das Chinesische keine Grammatik habe, wie meines Wissens früher sogar von Gelehrten behauptet worden ist. Sprache und Grammatiklosigkeit sind innere Widersprüche: jede Sprache hat ihre eigentümliche Grammatik, nur besteht diese im Chinesischen nicht in Flexionen, sondern in Stellungsgesetzen und grammatischen Hilfswörtchen, deren richtige Anwendung aus den Wörtern Sätze macht. Ihre Zahl ist nicht sehr groß, und ihr Erlernen bietet kaum Schwierigkeit. Man braucht also, um Chinesisch zu sprechen und verstehen zu können, nur diese Stellungsgesetze, die paar grammatischen Hilfswörter und eine Anzahl Vokabeln und Redensarten zu erlernen. So ausgerüstet, wird man ohne Mühe ein Schriftstück amtlichen oder geschäftlichen Inhalts oder einen Zeitungsartikel (mit Ausnahme zuweilen der Leitartikel, wenn sie sich im höheren Stil gefallen) verstehen können, und zwar bei der einfachen chinesischen Konstruktion leichter als z.B. eines türkischen gleichen Inhaltes mit seinen verschlungenen Gerundialverbindungen.

Für das heutige China kommt allerdings als Besonderheit noch hinzu die übermäßige Anwendung japanischer Ausdrücke, wohl als Ausfluß einer gewissen chinesischen Indolenz in Verbindung mit dem Umstande, dass viele Tausende der modernen chinesischen Jugend ihre Ausbildung in Japan genossen haben. Es ist das die für mich unsympathischste Erscheinung im heutigen Geschäftschinesisch. Wenn es sich um alte chinesische Ausdrücke handelte, die von den Japanern in früheren Jahrhunderten aus dem damaligen lebendigen Sprachschatze der Chinesen übernommen wurden und die im heutigen Chinesisch selbst verschollen sind, dann wäre dagegen nicht zu sagen, vielleicht ist eine solche Wiederbelebung alten chinesischen Sprachgutes nur zu begrüßen. Auch ist es bei der chinesischen Indolenz zu verstehen, wenn auch nicht zu entschuldigen, dass die Chinesen für moderne Begriffe nicht selbst ihre bequemen Schriftzeichen zu eigenen Komposition verwenden, sondern diese Zusammensetzungen einfach von den Japanern entlehnen, die sie doch auch nur mit Hilfe der chinesischen Bestandteile bilden. Die Chinesen gehen aber noch weiter in ihrer Nachahmungssucht: nicht nur ersetzen sie längst eingebürgerte Ausdrücke ohne irgendeinen Grund durch japanische Entlehnungen, wie sie z.B. das alte t'ieh-lu für "Eisenbahn" jetzt t'ieh-tau sagen, weil die Japaner die Eisenbahn so nennen (beides bedeutet wörtlich "Eisenbahnweg", vgl. railway in England und railroad in Amerika); solche Ausdrücke aber bleiben wenigstens auch dem des Japanischen nicht kundigen Chinesen ohne weiteres verständlich. Schlimmer steht's mit solchen rein japanischen Ausdrücken, die aus rein japanischen Elementen bestehen, so z.B. die Wortverbindung tsch'ü-hsiau, in der heutigen Sprache das übliche Wort für "annullieren, kassieren". Das ist nicht Chinesisch, sondern rein Japanisch, weshalb es dafür auch im japanischen keine sinojapanische Aussprache gibt, sondern es heißt im Japanischen nur torikesu. Die zweite Hälfte kesu heißt im japanischen "auslöschen", die erste "nehmen", ein Vorwort vieler japanischer Verben, das an sich bedeutungslos ist und lediglich den Verbalbegriff verstärkt und das im Japanischen zufällig mit dem chinesischen Wort tsch'ü "holen" entsprechenden Schriftzeichen geschrieben wird. An solchen Beispielen ist das heutige Chinesisch reich; es sind richtige Fremdwörter im Chinesischen, die der Chinese als solche mechanisch lernen muß, da er ihren Sinn aus dem sie bildenden chinesischen Schriftzeichen meist nicht ergründen kann. Deshalb ist für denjenigen, der sich mit dem heutigen Chinesisch beschäftigt, auch ein japanisches Wörterbuch kaum entbehrlich.

Aus dem bisher Gesagten ist bereits klargeworden, dass ich beim Studium des Chinesischen für praktische Zwecke unbedingt auch die Schrift einbegriffen wissen will. Selbstverständlich genügt es für den Hausgebrauch, dem Verkehr mit der Dienerschaft, Ladenbesitzern, Arbeitern und ähnlichen Leuten, eine Anzahl Vokabeln zu wissen, mit deren Hilfe man sich, auch ohne grammatisch richtige Sätze zu bilden, verständlich macht. Hierzu bedarf es keines Studiums; den nötigen Wortschatz liefert das tägliche Leben ganz von selbst. Leute, die eine gewisse Sprachbegabung mitbringen, können mit diesen Mitteln sogar Unterhaltungen führen, und ich war in Peking oft erstaunt, wie z.B. meine Frau, wenn sie zugereiste Freunde in den Sehenswürdigkeiten und Läden Pekings herumführte, ihre ohne besonderes Studium erworbenen geringen chinesischen Sprachmittel zu langen erfolgreichen Gesprächen mit Chinesen zu verwenden und ihnen meinen chinesischen Namen (Hsia "der Sommer") zu erklären imstande war. Zu einem wirklichen Verständnis auch der Umgangssprache gehört auch eine gewisse Kenntnis der Schrift. Für den, der mit chinesischen Beamten zu tun hat, erscheint mir diese Kenntnis geradezu unerlässlich für das Verständnis. Die politischen Umwälzungen in China haben auch im Norden eine große Anzahl Mittel- und Südchinesen als Beamte auf wichtige Posten gebracht, die zwar hochchinesisch sprechen, aber nur zum Teil. Manchmal ist dieses Hochchinesisch dem Heimatdialekt des Betreffenden verzweifelt ähnlich, und doch muß man den Mann verstehen lernen. Das geht nun ohne häufige Zuflucht zu den Schriftzeichen nicht ab.

Gewiß sind es für viele gerade die chinesischen Schriftzeichen, die abschreckend wirken. Die Scheu wird aber schwinden, wenn man erfährt, dass auch die kompliziertesten sich auf einfache Bestandteile zurückführen lassen, die leicht zu erlernen sind. Zwar ist die Zahl gewaltig groß, aber zur Beruhigung mag dienen, dass es wohl keinen einzigen Chinesen gibt, auch unter den gelehrtesten nicht, der die sämtlichen chinesischen Schriftzeichen kennt; dass viele darunter veraltet sind und dass, sollte ich meinen, eine Kenntnis von 2000 bis 3000 für unsere Zwecke vollkommen ausreichend sein dürfte und auch bei täglichem Fleiß in nicht zu langer Zeit zu erwerben ist. Stößt man dann auf ein unbekanntes Zeichen, so hilft das Wörterbuch irgendeiner anderen Sprache beim Nachschlagen eines unbekannten Wortes. Vielleicht interessiert es, in diesem Zusammenhang zu erfahren, dass ein Japaner, der lediglich die Elementarschule besucht, etwa 1300 chinesische Schriftzeichen lernen muß. Mit der Hoffnung, dass die Chinesen ihre Schriftzeichen zugunsten eines einfachen Alphabetes, sei es des lateinischen oder einer ähnlichen Abkürzung wie die unter dem Namen Katakana bekannte japanische Silbenschrift, aufgeben werden, tröste man sich nicht. Zwar gibt es schon seit einiger Zeit auch Befürworter unter den Chinesen hierfür, ja, sogar Versuche auf dem Gebiete sind schon gemacht; doch halte ich aus verschiedenen Gründen, die anzuführen hier zu weit führen würde, diese Bewegung zum Glück für aussichtslos. Sind doch selbst in Japan die Bestrebungen der Gesellschaft für lateinische Schrift (Romaji-Kwai) als gescheitert anzusehen, und wenn die Japaner zur Einsicht gekommen sind, ihr bisheriges sehr kompliziertes Schriftsystem (chinesische Zeichen, Katakana und das sehr schwierige Hiragana) sei vorzuziehen, so wird der gesunde Sinn der Chinesen sich erst recht dagegen sträuben, ihre uralte eigene Schrift, das wichtigste einigende Band der Nation, über Bord zu werfen (ebenso wie ich es bedauern würde, wenn die auf Beseitigung der uns Deutschen eigentümlichen Schrift zugunsten der lateinischen gerichteten Bestrebungen Erfolg hätten).

Schließlich genügt es für den Ausländer, eine gewisse Anzahl chinesischer Zeichen zu kennen und zu verstehen, auch ohne sie selbst schreiben zu können, wenn letzteres auch sehr erwünscht ist, schon aus praktischen Gründen, um im Laufe einer schwierigen Unterhaltung dem Verständnis hin und wieder nachzuhelfen. Allerdings gehört dazu dauernde Übung im Schreiben. Ich pflegte es so zu machen, dass ich chinesische Texte transkribierte und später die Umschrift in chinesische Zeichen zurück übertrug. Diese Art der Übung kann ich sehr empfehlen. Es wird natürlich nicht ausbleiben, dass hin und wieder trotzdem einmal ein Schriftzeichen einem zwar im Geiste vorschwebt, man es aber dennoch nicht im gegebenen Augenblick zu Papier bringen kann. Für solche Fälle pflegte ich eins der kleinen nach der Aussprache alphabetisch angeordneten Glossarien, besonders den kleinen Goodrich, bei mir zu führen, der für solche Zwecke ausgezeichnete Dienste leistet. Als Schreibmaterial dient am besten der Bleistift. Das Schreiben mit dem Pinsel nach der chinesischen Kalligraphie ist eine besondere Kunst, die viel Zeit und Mühe erfordert, für unsere praktischen Zwecke jedoch nicht notwendig ist.

Was die Wahl der chinesischen Dialekte anbelangt, so kommt für unsere Zwecke nur das Hochchinesisch (Kuan-hua, sonst bei uns auch Mandarinenchinesisch genannt) in Frage, das am schönsten von geborenen Pekingleuten gesprochen wird. Die Zahl derjenigen Chinesen aus besseren Kreisen, die sich gar nicht bemühen, es zu erlernen, wird immer kleiner, und die Zeit, wo es im ganzen Reiche verstanden wird, dürfte nicht mehr fern sein.

Wer nicht nur Chinesisch lesen, sondern auch sprechen und verstehen will, wird am Anfang der Unterstützung durch einen Eingeborenen (am besten einen solchen aus Peking) nicht entraten können der Aussprache wegen. Das Chinesische besitzt keine für unsere Sprachorgane schwierige Laute; immerhin lässt sich bekanntlich die richtige Aussprache der Wörter einer fremden Sprache auch durch die genaueste Erklärung in Büchern nicht anschaulich machen. Beim Chinesischen kommt hinzu noch die Stimmodulation der Töne, deren das Hochchinesische in Peking vier besitzt. Es ist unmöglich, sie aus schriftlicher Anleitung zu lernen. Mancher lernt sie auch trotz täglichen Hörens von Eingeborenen nach Jahren nicht. Hat man aber ihr Wesen einmal richtig erfasst, ist ihre Anwendung leicht. Will es aber jemandem gar nicht gelingen, dann braucht er deshalb nicht den Mut zu verlieren. Denn zum Verständnis sind sie, von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen (wozu z.B. das Wort "mai" gehört, welches, je nach Verschiedenheit des Tones, mit dem es gesprochen wird, "kaufen" oder "verkaufen" bedeutet), nicht erforderlich, und wo sie es sind, kann der ohne Ton Sprechende einem Missverständnis durch eine umschreibende Erklärung vorbeugen. Die richtige Anwendung der Töne gehört aber zur guten Aussprache, und die Anwendung falscher Töne dürfte auf ein Pekingohr denselben peinlichen Eindruck machen wie etwa die Aussprache la batalj de Sengkangteng auf das Ohr eines Parisers. Im übrigen gibt es viele sonst vorzüglich Chinesisch sprechende Ausländer (z.B. die meisten mir bekannten Russen), die für die Töne eine souveräne Verachtung haben, und fast alle mir bekannten aus Mittel- und Südchina stammenden chinesischen Beamten in Peking kümmern sich gleichfalls nicht um sie, wenn sie Hochchinesisch sprechen.

Die Stellungsgesetze im Chinesischen gelten sowohl für die geschriebene wie für die gesprochene Sprache. Aber die grammatischen Hilfswörter sind für beide verschieden. Doch ist der Unterschied zwischen beiden Sprachen bei weitem nicht so groß wie z.B. im Japanischen, wo beide Sprachen sogar ganz verschiedene Konjugationen haben. Auch gehen heutzutage im Chinesischen beide zuweilen dermaßen ineinander über, dass eine strenge Grenzlinie nicht gezogen werden kann und man mit einem Beamten über amtliche Dinge unbedenklich so sprechen kann, wie man ein amtliches Schriftstück abfassen würde; sogar die Hilfswörter der Schriftsprache kann man da anwenden. Beide Sprachen haben sich im modernen Chinesisch sehr einander angenähert. Ein Vorzug der Sprache ist ihre einfache Klarheit. Unklar wird ein modernes chinesisches Dokument nur dann, wenn es, wie es heutzutage oft vorkommt, zuerst in einer fremden Sprache, meist Englisch, verfasst war, und der fremdsprachkundige chinesische Übersetzer sich bemüht, die chinesische Abfassung möglichst wörtlich dem fremden Original anzupassen, was natürlich ohne schlimme Vergewaltigung des Chinesischen nicht abgehen kann.

Wir kommen jetzt zur Frage der Hilfsmittel zur Erlernung des Chinesischen. In dieser Hinsicht sind wir in Deutschland schlecht bestellt. Die Möllendorff sche Grammatik des Hochchinesischen und die Arendt sche Grammatik sind die einzigen Lehrbücher, die nach meiner Meinung empfehlenswert sind; letztere erklärt die grammatischen Erscheinungen der Pekinger Umgangssprache in bisher unübertroffener Weise. Die große Grammatik von von der Gabelentz behandelt nur den höheren Stil, seine kleine ist in dem das Hochchinesische behandelnden Teile unzulänglich. Die Grammatik von Othmer und Lessing ist von Lokalismen der Provinz Schantung nicht frei. Das unter den Lehrbüchern des Seminars für Orientalische Sprachen erschienene Übungsbuch "Yamen und Presse" hätte lieber nicht gedruckt werden sollen; abgesehen von dem grundlegenden Fehler, dass es nicht ausschließlich chinesische Originaldokumente enthält, sondern auch zahlreiche in deutschen Kanzleien verfertigte Übersetzungen, weist das zugehörige Glossar unverzeihliche Irrtümer auf. Sonstige deutsche in Betracht kommende Hilfsmittel sind mir nicht bekannt. Dagegen existieren in englischer Sprache zahlreiche, unter denen ich die nachstehenden empfehlen möchte. Für die Umgangssprache behalten die "Progressive Lessons" von Sir Thomas Wade wegen der darin enthaltenen und bequem verarbeiteten Fülle von Wörtern und Redensarten ihren bleibenden Wert, ebenso wie die von einem Japaner unter der Bezeichnung "Kuan-hua chih-nan" herausgegebene Sammlung praktischer Gespräche, teils in Peking-Umgangssprache, teils in gutem Hochchinesisch, zu der es auch eine englische Übersetzung mit Vokabular gibt. Gewarnt sei vor der französischen Bearbeitung dieses Werkes. Eine sehr brauchbare Grammatik des Hochchinesischen hat Edkins herausgegeben. Mateers "Mandarin Lessons" möchte ich deshalb nicht empfehlen, weil das Buch einmal zu einseitig für die Bedürfnisse von Missionaren zugeschnitten ist und dann die Dialekte durcheinanderwirft; was es als Mandarinenchinesisch bezeichnet, ist zum Teil Schantung-Sprache. Es existiert noch eine Anzahl mehr oder minder nützlicher Hilfsmittel in englischer Sprache, doch halte ich die beiden angeführten für die besten und ausreichend.

Für den amtlichen Stil seien empfohlen die beiden Werke des ehemaligen Seezolldirektors Dr. Hirth, die vorzüglichen "Notes on the Chinese Documentary Style", die eine Grammatik des amtlichen Stils darstellen, und seine Sammlung chinesischer Dokumente mit Glossar; ferner eine kleine und sehr reichliche Chrestomathie ähnlicher Art von Bullock. Wer diese Werke zur Verfügung hat, kann für das Studium auf andere Hilfsmittel ähnlicher Art verzichten. Wer sich für den chinesischen Briefstil interessiert, findet reichlichen Stoff und Belehrung in der von dem Italiener Marco Guseo herausgegebenen ausgezeichneten Sammlung chinesischer Briefe jeglicher Art mit ausführlichen Erläuterungen (in italienischer Sprache), ein Werk, das weite Verbreitung verdient.

Zum Studium einer fremden Sprache gehört auch ein Wörterbuch. Für unseren Zweck kann nur das chinesisch-englische von Giles in Frage kommen, das alle Spielarten des Chinesischen (allerdings kritiklos durcheinander) behandelt und so allen Bedürfnissen notdürftig gerecht wird; die zahlreichen darin enthaltenen Fehler sind für den Anfänger nicht von Belang. Die anderen größeren Wörterbücher (Couvreur, chinesisch-französisch, Pawlow, chinesisch-russisch) behandeln nur die Literatursprache. Als Nachschlagebuch aus einer fremden Sprache in das Chinesische ist das französisch-chinesische Wörterbuch von Couvreur zu empfehlen und allenfalls noch das englisch-chinesische von Stent, für den Fortgeschrittenen das große von der Commercial Press in Schanghai herausgegebene, in der Ausführung den Webster nachahmende "englisch-chinesische Wörterbuch". Vor einigen Jahren ist auf Kosten der chinesischen Seezollverwaltung eine von dem deutschen Zolldirektor Dr. Hemeling angefertigte Umarbeitung des Stentschen englisch-chinesischen Wörterbuches gedruckt worden. Ich habe einen Teil des Manuskriptes gesehen, was der Verfasser, sehr gegen meine Absicht, dazu benutzt hat, in der von weitgehendem Eigenlob etwas übervollen Vorrede zu sagen, ich hielte das Buch für ein hervorragendes Werk, während ich in Wirklichkeit gerade der entgegengesetzten Meinung bin.

Nun noch ein Wort zur Methode. Ich bin der Meinung, dass es der Begabung und Eigenart jedes Einzelnen überlassen bleiben muß, sich beim Studium einer fremden Sprache einen eigenen Weg zu suchen. Die für unseren schulmäßigen Sprachunterricht maßgeblich gewordenen Methoden sind für den Massenunterricht zugeschnitten und kommen, da sie naturgemäß der Einzelart des Individuums nicht gerecht werden können, für den Selbstunterricht nicht in Betracht. Dies gilt auch für unseren Fall. Die folgenden Ratschläge sind daher lediglich als solche aufzufassen auf Grund der Materialien, die heutzutage demjenigen zur Verfügung stehen, der es unternimmt, das Chinesische für praktische Zwecke sowohl in Wort wie in Schrift zu erlernen, wobei der Eigenart und Sondereignung des einzelnen weiter Spielraum gelassen wird.

Der Lernende nehme zunächst den Arendt oder den Wade zur Hand, bis er imstande ist, sich über die einfachsten Sachen verständlich zu machen, und eine Anzahl der einfachsten Schriftzeichen kennt. Dann beginne er bald mit dem Lesen einfacher Schriften. Am geeignetsten erscheinen mir hierzu die von dem chinesischen Unterrichtsministerium herausgegebenen Fibeln für Elementarschulen, die mit einfachen Wörtern und Sätzen beginnen und als Anfangslektüre für solche, die in China leben und keins der angegebenen Lehrbücher zur Verfügung haben, und ohne Vorstudium nutzbringend sind, da die Erklärung der chinesischen Sätze dem chinesischen Lehrer nicht die geringste Schwierigkeit machen, auch ohne Lehrer mit Hilfe jedes kleinen Wörterbuches mühelos zu erlangen sein wird. Ich gehe hierbei davon aus, das Lesen und Sprechen gleichzeitig geübt wird. Die Erklärung der grammatischen Erscheinungen wird entweder einem der genannten Lehrbücher entnommen, kann aber zur Not durch Übung allmählich selbst gewonnen werden. Damit will ich mich keineswegs zu der Theorie des verstorbenen Professors Schlegel bekennen, der seinen Schülern den Rat gab, nur zu lesen, zu lesen, zu übersetzen und die Grammatiken in das Feuer zu werfen. Ich bin im Gegenteil ein überzeugter Anhänger der grammatischen Vorbildung und meine den letzten Satz nur für solche, die nicht in der Lage sind, sich eine solche zu beschaffen. Im Übrigen kann ich nur das erwähnte Hirthsche Büchlein auf das wärmste empfehlen.

Ist der erste Anfang gemacht, dann steht heutzutage der Lernende vor einem wahrhaft verwirrenden Reichtum der ihm zur Verfügung stehenden Mittel. Namentlich sind die Japaner fleißig dabei gewesen, Lehrmittel für die Erleichterung des chinesischen Studiums zu schaffen. Abgesehen von zahlreichen sehr guten Konversationsbüchern haben sie Sammlungen chinesischer Zeitungsartikel mit hinzugefügter Übersetzung in der gewöhnlichen Umgangssprache verfasst. Es gibt auch chinesische Zeitungen in der einfachen Sprechsprache des täglichen Lebens. Die Fülle des Gebotenen ist heutzutage bereits so groß, dass es fern von Ort und Stelle unmöglich ist, eine auch nur annähernde Zusammenstellung zu geben, ohne Gefahr zu laufen, Nützliches zu übersehen. Sobald das Anfangsstudium überwunden ist, hat der Lernende freie Wahl, sich die Lektüre nach eigenem Geschmack und so einzurichten, dass er dabei gleichzeitig für die Erweiterung seines Sprachschatzes für die gesprochene Sprache sorgt. Jede Zeitung dient diesem Doppelzweck.

Nur von chinesischen Novellen und Romanen halte sich der Anfänger, dem es auf die Fortbildung in der Umgangssprache und im schriftlichen Geschäftsstil ankommt, zunächst fern; denn diese Art Literatur bedient sich einer ihr eigentümlichen Sprache, die für unsere praktischen Zwecke wenig Ausbeute liefert, andererseits den kritiklosen Anfänger leicht verleiten könnte, ihr Ausdrücke zu entnehmen, die er nicht verwenden kann. Eine Ausnahme macht der bekannte Roman "Erh nü ying hsiung tschuan" (Geschichte der männlichen und weiblichen Helden), der gute Umgangssprache enthält, auch inhaltlich von großem Interesse ist. Übertroffen wird er in jeder Hinsicht von dem vor noch nicht zwei Jahrzehnten erschienenen Buche "Kuan tschang hsien hsing" (Gegenwärtige Verhältnisse des Beamtentums), von einem ehemaligen Beamten verfasst, das zum Teil die Schäden des chinesischen Beamtentums in prachtvollem Hochchinesisch schildert, und dessen Lektüre ich jedem nicht dringend genug empfehlen kann, der ernstlich chinesische Sprachstudien treibt. Abgesehen von dem Genuss, den ihm der Inhalt bietet, bereichert er sich mit einer Fülle der nützlichsten Redewendungen des modernen Chinesisch. Sehr zu wünschen wäre es, wenn diejenigen, die solche Lektüre treiben, sich alphabetisch geordnete Glossarien anlegten. An einem wirklich guten chinesisch-europäischen Wörterbuch fehlt es zurzeit noch und wird es noch für Jahrzehnte fehlen. Die Idee eines solchen umfassenden Wörterbuches halte ich für absehbare Zeit angesichts der geringen Anzahl der auf diesem Gebiete ernstlich Arbeitenden und der Verschiedenheit der Stilgattungen für aussichtslos. Doch dürfte für ein Zukunftswerk dieser Art schon viel gewonnen sein, wenn ein jeder auf seinem Spezialgebiet gewissenhaft und sorgfältig zusammengestellte Glossarien beschränkter Sprachgebiete anfertigt, die die Bausteine für das umfassende Zukunftswerk zu bilden haben.

Zum Schluss bemerke ich noch, dass ich gern bereit bin, jedem ernsthaften Interessenten mündliche Auskunft über Einzelheiten zu erteilen, deren Darlegung weit über den Rahmen des vorstehenden Aufsatzes hinausgegangen wäre.

Druck von H. S. Hermann in Berlin


Buchbesprechungen

Veröffentlichungen "Der Neue Orient" Band III 1920

Kultur- und Geistesleben im Orient
Dr. Eduard Erkes. Chinesen, Nummer 30 der Zellenbücherei, 1920 Dürr & Weber
m. b. H.,Leipzig

Der für die Besprechung zur Verfügung stehende kurz bemessene Raum gestattet leider nicht, im Einzelnen auf manches Anfechtbare in dieser Schrift einzugehen. Zweifellos bietet das Chinesentum gegenüber der europäischen Kultur unendlich viele sympathische Züge, und daß sich unter der Einwirkung des Abendlandes manches davon schon beginnt abzuschleifen und auch die alte chinesische Art in Gefahr gerät, allmählich dem charakterlosen Internationalismus zu verfallen, ist bedauerlich. Aber daß in China alles schön und unseren Ansichten und Einrichtungen überlegen sei, wie der Verfasser es darstellt, ist eine Übertreibung, die sich wohl daraus erklärt, daß seine persönliche Kenntnis des Landes lediglich auf einem Besuche von wenigen Wochen in Peking beruht. Unwidersprochen darf nicht bleiben das maßlos ungerechte Urteil über die protestantischen Missionen, zumal der Verfasser zugunsten der deutschen Missionare keine Ausnahme macht.

Gez. E. Krebs

 

Weideplätze der Mongolen im Reiche der Chalcha.
Von Hermann Cousten. Band II, Dietrich Reimers (Ernst Vohsen), Berlin 1920.

Das Buch ist reich an packenden Schilderungen persönlicher Erlebnisse in einer politisch aufgeregten Zeit in der Mongolei nach Ausbruch der chinesischen Revolution sowie an interessanten Darlegungen mongolischer Sitten und Gebräuche. Besondere Beachtung verdienen die Angaben über die damaligen politischen Verhältnisse der äußeren Mongolei und ihre Beziehungen zu Rußland. Leider wird der wissenschaftliche Wert des Buches durch den Umstand erheblich herabgemindert, daß die vorkommenden mongolischen, chinesischen und tibetischen Namen und Wörter von dem dieser Sprachen augenscheinlich unkundigen Verfasser entweder lediglich nach dem Gehör oder unter Benutzung einer russischen Umschreibung niedergeschrieben worden sind. Wenn man nicht weiß, nach welchen Grundsätzen die Russen z.B. chinesische Wörter mit russischen Buchstaben wiedergeben, kommt man wie der Verfasser dazu, einen Silbertael lan zu nennen, anstatt des richtigen liang. Das Buch hätte an Wert gewonnen, wenn das Manuskript vor der Drucklegung von einem Sachverständigen mit Bezug auf diese fremden Namen und Wörter einer Durchsicht unterzogen worden wäre. Überaus wertvoll sich dagegen die dem Werk beigegebenen zahlreichen guten Photographien.

Gez. E. Krebs

 

Die Geschichte vom Räuber und dem Herrn Richter.
Bearbeitet und übersetzt von Sebastian Beck. Heidelberg, Julius Groos, 1920

Unter obigem Titel erschien soeben das vierte Bändchen der türkischen Schriften aus der von Sebastian Beck herausgegebenen "Sammlung gemeinnütziger Schriften zu Förderung des Studiums islamischer Sprachen". Es behandelt eine volkstümliche Erzählung, die vorhergehenden Bändchen enthielten Märchen. Wenn der Herausgeber in seinem "Geleitwort" als den ihm bei der Herausgabe leitenden Gedanken den hinstellt, den Studierenden islamischer Sprachen zuverlässiges und anregendes Lesematerial an die Hand zu geben, durch dessen Lektüre sich nicht nur der Sprachschatz des Lesers, sondern auch vor allem seine Kenntnis der Realien nach jeder Richtung erweitert, so lassen schon die bisher erschienenen Bändchen ahnen, welche reiche Fundgrube an Stoff uns die Sammlung bieten wird. Ein Jammer wäre es, wenn die augenblicklichen ungünstigen Verhältnisse im Druckereigewerbe auch dem Fortschreiten dieser nützlichen Sammlung hinderlich wären. Derartig sorgfältig und gewissenhaft ausgearbeitete türkische Lektüre ist bisher niemals und nirgends geboten worden; fast fühlt man sich versucht zu sagen, Umschrift und Wörterverzeichnis seien allzu sorgfältig ausgearbeitet, und die darauf verwandte Mühe stehe in keinem rechten Verhältnis zu dem dadurch gebotenen Nutzen. Jedenfalls sind Umschrift, Wörterverzeichnis, zahlreiche sprachliche und sachliche Anmerkungen und ständige Hinweise auf die Paragraphen der türkischen Grammatik von Jehlitschka mit einer derartig musterhaften Exaktheit und Ausführlichkeit bearbeitet, daß selbst solche Lernende, die sonst ohne Lehrer an das Studium einer fremden Sprache sich nicht heranwagen würden, beim Studium der Beckschen Bändchen anderer Hilfe ohne weiteres entraten können.

Gez. E. Krebs

 

Veröffentlichungen "Der Neue Orient" Band VII 1920
Kultur- und Geistesleben im Orient

Theodor Kluge, Dr.-Ing., Dr. phil.: Georgisch-deutsches Wörterbuch. 1. Lieferung. Leipzig 1919. In Kommission: Otto Harrassowitz; Leipzig.

Das Bedürfnis nach einem georgisch-deutschen Wörterbuch ist vielleicht nicht sehr groß. Es ist kaum anzunehmen, daß der geringe Kreis derjenigen, welche sich mit dem Georgischen ernstlich beschäftigten, Personen in sich schließt, die nicht eine genügende Kenntnis des Russischen besäßen, um sich der für das Studium des Georgischen zur Verfügung stehenden russischen Hilfsmittel mit Nutzen zu bedienen. Nichtsdestoweniger wäre es natürlich mit Freuden zu begrüßen, wenn aus dem bisher vorhandenen Material ein auf der Höhe unserer jetzigen Kenntnis der Sprache stehendes georgisch-deutsches Wörterbuches herausgearbeitet würde. Mit einer bloßen Verdeutschung des russischen Teiles des georgisch-russischen Wörterbuches von Tschubinow wäre nicht gedient, wenn nicht gleichzeitig die in ihm noch enthaltenen zahlreichen Irrtümer berichtigt würden. Die Klugesche Arbeit kann aber, soweit die erste Lieferung erkennen läßt, nicht einmal den geringen Anspruch erheben, eine brauchbare Verdeutschung des Tschubinow zu sein. Selbst wenn die in ihr enthaltenen Verdeutschungen sämtlich richtig wären, wäre immer noch der Mangel zu rügen, daß insbesondere bei der Wiedergabe von Zeitwörtern fast stets nur die an erster Stelle stehenden russischen Verben ins Deutsche übersetzt und andere wichtige und häufige Bedeutungen ausgelassen sind. Wie wenig sich ein etwaiger Benutzer der Arbeit im Allgemeinen auf die deutsche Wiedergabe der Tschubinowschen Übersetzung georgischer Wörter würde verlassen können, mag nachstehende Auswahl der auffallendsten und schwer verzeihlichen Fehler zeigen, die nur mit Rücksicht auf den beschränkten Raum an dieser Stelle nicht größer ausgefallen ist. Seite 11 a: anac'er "Aussaat". Tschubinow hat (russische Schrift); also muß die Übersetzung sein: "Spreu, Kleie". Seite 28 b: belti "Dorn". Es muß aber heißen "Rasen"; hier liegt seitens des Verfassers eine Verwechslung zwischen Russischem (russische Schrift) und (russische Schrift) vor. Wunderschön ist Seite 29 c blu "Häsin,stumm, sprachlos". Bei Tschubinow steht (russische Schrift), das selbst wieder Druckfehler für (russische Schrift) "Stammler, Stotterer" ist. Seite 30 a bogiri; hier ist "Floß" falsch für "Wehr, Damm", was das bei Tschubinow an der Stelle stehende (russische Schrift) bedeutet. Seite 31 b ist bei bostaneuli und bostani die Übersetzung "Umzäunung" falsch; das entsprechende russische Wort (russische Schrift) heißt nichts anderes als "Gemüsegarten"; zur falschen Bedeutung "Umzäunung" ist der Verfasser vermutlich dadurch verleitet worden, daß er im Lexikon das Zeitwort (russische Schrift) "umzäunen" gefunden hat. Auf Seite 33 aist bude qvavilisa übersetzt mit "Blumenschale", das das russische (russische Schrift) wiedergeben soll; (russische Schrift) heißt zwar "Schale"; aber der zusammengesetzte Ausdruck bedeutet "Blumenkelch". Ein besonders lustiges Beispiel für die Art, wie die vorliegende Arbeit zustande gekommen ist, findet sich Seite 7 a. Dort ist bei ambiani, das als Adjektivum, vom Substantivum ambawi (Gerücht) gebildet ist, und daher "Gerücht habend" bedeutet, die merkwürdige Übersetzung "berühmt und nicht berühmt" angegeben. Hzieht man verdutztden Tschubinow zu Rate, dann findet man dort an der betreffenden Stelle ambiani da uambo mit der richtigen Übersetzung (russische Schrift). Zum Unglück für den Bearbeiter ist nur das erste Wort ambiani fett gedruckt, die beiden anderen da uambo, die "und nicht berühmt" bedeuten, aber nur mit gewöhnlichen kleineren Typen, sind also seiner Aufmerksamkeit entgangen und haben ihn zu dem Glauben veranlaßt, ein und dasselbe Wort bedeute gleichzeitig "berühmt" und "nicht berühmt"!!! Die Oberflächlichkeit der Arbeit wird unter anderem z.B. auch dadurch gekennzeichnet, daß Seite 33 c bei bunebit'i g'eog'rag'ia der an derselben Stelle bei Tschubinow stehende Druckfehler ohne weiteres nachgeschrieben ist, ohne n das richtige g'eog'rag'ia verbessert zu werden.

Die wenigen angeführten Beispiele, die Zweifel an der Kompetenz des Verfassers aufkommen lassen, dürften zu dem Urteil berechtigen, daß, unter der Voraussetzung, daß die späteren Lieferungen der vorliegenden ersten entsprechen, die Sprachwissenschaft durch die Arbeit keine nützliche Bereicherung erfahren hat und keinen Verlust zu beklagen haben würde, wenn die tieftraurigen Zeiten eine Vollendung hinausschöben oder gar verhindern, zumal das im "Neuen Orient" Band 5, Heft 3/4, Seite 136 von R. Meckelein angekündigte deutsch-georgische und georgisch-deutsch umfassende Wörterbuch seiner Vollendung entgegengeht.

Gez. E. Krebs

 

Chinas innere und äußere Politik
Vortragsabend des Beirats für Auslandsstudien d. Univ. Berlin (24 Seiten), lt. Mande Krebs

Veröffentlichungen:" Der Neue Orient" 1923 Heft 3 und 4, Staatsbibliothek Berlin
Recherchiert Frau Jianan Yan, Peking 12.2015

Chinas innere und äußere Politik
von E. Krebs.

Die Nachrichten, die aus Ostasien zu uns gelangen, berichten seit Jahren von derartig trostlosen und verworrenen politischen Zuständen in China, daß es dem fernstehenden Beobachter scheinen will, als ob Aussicht auf die Wiedervereinigung des gegenwärtig in mehrere Stücke zerrissenen großen Reiches nicht mehr vorhanden sei. Sind die Aussichten wirklich so verzweifelt? Ist die bei uns obwaltende pessimistische Auffassung vielleicht nicht vielmehr darauf zurückzuführen, daß der Fernstehende an die chinesischen Dinge den Maßstab europäischer Zustände und Gedankengänge legt?

Bei Beurteilung der gegenwärtigen politischen Verhältnisse Chinas - es ist im Nachstehenden nur vom eigentlichen China mit Einschluß der drei mandschurischen Provinzen, nicht auch von den Ausländern wie Mongolei und Tibet die Rede, die zwar zu normalen Zeiten Bestandteile des chinesischen Reiches waren, aber administrativ eine mehr oder weniger unabhängige Sonderstellung einnahmen - muß man sich ein doppeltes vor Augen halten: Erstens sind die heutigen Zustände in China keineswegs etwas Neues und Unerhörtes; vielmehr hat das Land im Verlaufe seiner mehrtausendjährigen Geschichte wiederholt viel schlimmere Zeiten der Zerrissenheit durchgemacht, die manchmal von sehr langer Dauer waren, und doch ist es daran nicht zu Grunde gegangen. So sieht auch der geduldige Chinese von heute in den Drangsalen der Gegenwart eine, wenn auch beklagenswerte, doch nur vorübergehende Erscheinung, die einmal besseren Zuständen im wiedergeeinten Vaterlande wieder Platz machen wird.

Zweitens aber sind die Kämpfe, welche die gegenwärtige Lage herbeigeführt haben, nicht etwa das Ergebnis tiefgehender Unterschiede des politischen Denkens, etwa des Ringens zwischen Reaktion und Fortschritt, sondern es liegen ihnen lediglich reine Machtfragen der beteiligten Parteien und Gruppen zu Grunde, deren Gegensätze teils rein persönlicher Natur sind, teils, und das gilt insbesondere von dem Streit zwischen Süden und Norden, auf der Verschiedenheit des Temperaments beruhen. Bei dem durchaus unpolitischen Charakter des chinesischen Volkes waren bis Ende der Kaiserzeit politische Gegensätze, die zur Bildung von politischen Parteien hätten führen können, undenkbar. Es bestanden früher höchstens geheime Gesellschaften unter den verschiedensten Namen, die im Allgemeinen gegen die gerade herrschende Dynastie zugunsten der von dieser vertriebenen früheren gerichteten Tendenz hatten und die die jeweilige Regierung naturgemäß dauernd verfolgte und zu unterdrücken strebte. Als der Vater des politischen Parteiwesens in China kann der als geistiger Urheber der Revolution gegen die Mandschu-Dynastie bekannte Sun Won gelten, der während seines Aufenthaltes in Japan 1901 die Tung mang hui, Bundesgesellschaft, gründete, fast ausschließlich aus Südchinesen bestehend und mit beinahe sozialistischem Parteiprogramm. Ihr gehörten vor allem die Männer an, die später bei der Revolution vom Jahre 1911 eine Rolle gespielt haben, und die große Masse der in Japan studierenden Jugend aus Südchina. Das Ziel dieser radikalen Südpartei war ein doppeltes: 1) die von ihr als rassefremde Eroberer angesehenen Mandschu-Kaiser zu vertreiben und 2) den bis dahin allein maßgebenden Einfluß des Nordens in der Reichspolitik nach Möglichkeit einzuschränken und dem Süden das Übergewicht in der Leitung der Geschicke Chinas zu sichern. Das lebhaftere südliche Temperament zeigt sich hier vor allem darin, daß die Bundesgesellschaft, der es anfangs nur auf Beseitigung der Mandschus und Wiedereinsetzung der Nachkommen der von diesen vertriebenen Kaisern aus der chinesischen Familie der Ming ankam, sehr bald über dieses Ziel hinausging und sich für die Einrichtung einer Republik entschied.

Zur leichteren Erreichung ihrer Ziele zog die Partei nach der formellen Errichtung der Republik einige kleinere Parteien ähnlicher Tendenz, die sich inzwischen gebildet hatten, an sich heran und baute sich mit geringen formellen Programmänderungen zu der großen demokratischen Partei Kuomintang aus, die noch heut das Rückgrat der südchinesischen Politik bildet und die insbesondere Yüan Shih kai während seiner Präsidentschaft Schwierigkeiten über Schwierigkeiten bereitete, weshalb dieser gegen Ende 1913 die ihr angehörigen Parlamentsmitglieder einfach aus Peking verwies und, weil nun der Rest des Parlaments beschlußunfähig geworden war, damit der parlamentarischen Tätigkeit überhaupt vor der Hand ein Ziel setzte.

In der Republik beanspruchte der Süden schon deshalb eine dem Norden gegenüber bevorzugte Stellung, weil der Süden die Revolution "gemacht" hatte, das kam nicht nur in der von ihm aufgesetzten (übrigens noch bis heute keine definitive ersetzten) Nankinger provisorischen Verfassung von 1912 zum Ausdruck, die im Gegensatz zu der vom Norden vertretenen Auffassung die Hauptmachtbefugnisse dem Parlament einräumte und dem Präsidenten der Republik verhältnismäßig geringe Rechte gewährte (weshalb es denn Yüan Shih kai auch vorzog sich der Mitwirkung des Parlaments bald zu entledigen), sondern auch in dem Verlangen, die Reichshauptstadt von Peking nach Nanking zu verlegen. Zu dem Zweck forderte man von dem zum provisorischen Präsidenten gewählten Yüan Shih kai, er solle den Eid auf die provisorische Verfassung in Nanking ablegen, ein Ansinnen, dem er nur dadurch auszuweichen wußte, daß er während der Anwesenheit der zu seiner Abholung nach Peking gekommenen Delegation des Südens eine große Truppenmeuterei in Szene setzen ließ, damit aller Welt klar vor Augen geführt würde, daß er sich im Interesse der Ruhe und Sicherheit des Landes nicht von Peking entfernen dürfe.

Natürlich suchte sich der Norden gegen die weitgehenden Ansprüche des Südens zu wehren und stellte der Südpartei die kurz nach Etablierung der Republik gebildete gemäßigt republikanische Partei Kunghotang gegenüber, die an Einfluß bald durch die große Fortschrittspartei Chinputang überholt wurde. Letzterer gehörten auch solche Südchinesen an, die mit den übertriebenen Ansprüchen ihrer engeren Landsleute nicht sympathisierten, so vor allem ihr Mitbegründer, der Cantonese Liang Ki tschau (seit 1898 viel genannt, der damals zusammen mit seinem Landsmann Kang Yu wei den Kaiser Kuanghsü bei dessen Reformversuchen zur Modernisierung Chinas beriet), eine kurze Zeit lang Justizminister während der Präsidentschaft Yüan Shih kai's, dann nur als Schriftsteller tätig und als solcher von großem Einfluß im heutigen China. Dazu kommen mit der Zeit etwa ein Dutzend kleinere Parteien von teils untergeordneter, teils vorübergehender Bedeutung, deren Aufzählung sich erübrigt. Hervorgehoben zu werden verdient nur der Anfu-Klub (so genannt nach der Straße in Peking, wo sich das Klubgebäude befand), nicht nur wegen des Einflusses seines Gründers und Hauptes, des langjährigen Ministerpräsidenten Generals Tuan Kijui, sondern auch wegen seiner außenpolitischen Bedeutung. In ihm fanden sich nämlich alle diejenigen zusammen, welche sich zur Erreichung ihrer Ziele auf Japan stützten. Aus diesem Grunde war der Klub vielfach verhaßt, und als es dem im Rufe eines patriotisch gesinnten und uneigennützigen Republikaners stehenden General Wu Peifu gelang, den Klub mit Waffengewalt zu besiegen und unschädlich zu machen, wurde er mit einem Schlage der populärste Mann in Nordchina.

Im modernen Ausland, wo das Volk am politischen Leben mehr oder weniger Anteil nimmt, haben politische Parteien eine große Basis in breiten Bevölkerungsschichten mit den gleichen politischen Ansichten. Man glaube nun nicht etwa, daß das in China ebenso sei. Hier ist die Partei vielmehr auf ihre eigentlichen Mitglieder beschränkt; ihre Macht schöpft sie nicht aus einer hinter ihr stehenden gleichgesinnten Volksmasse, auch nicht aus der Stärke ihrer Vertretung im Parlament, zeigt doch die neueste Geschichte Chinas, wie das Parlament aufgelöst wurde, wenn es sich dem Willen der augenblicklichen Machthaber nicht fügen wollte. Die Macht der Partei beruht vielmehr auf der Macht einzelner ihrer Mitglieder an Geld und Truppen. Geld spielt in der modernen chinesischen Politik ebenso wie anderwärts eine große Rolle. Von einem Kampfe mit geistigen Waffen allein kann schon deshalb keine Rede sein, weil, wie bereits angedeutet wurde und durch einige Beispiele belegt werden wird, es sich bei den Kämpfen in China nicht um den Kampf zwischen Ideen, sondern um bloße Machtstreitigkeiten handelt. Daher finden wir im modernen chinesischen Parteiwesen so viel Bestechlichkeit und unvorschriftsmäßige Verwendung öffentlicher Mittel. So verwerflich das auch natürlich ist, so ist in China den Betreffenden doch vielfach wenigstens der Umstand mildernd anzurechnen, daß die oft auf nicht einwandfreie Art verlangten Geldmittel nicht immer ausschließlich der persönlichen Bereicherung, sondern vorzugsweise der Stärkung der eigenen Partei dienen. Da die Machtkämpfe nötigenfalls mit den Waffen ausgefochten werden müssen, ist natürlich die Partei am stärksten, welche über die meisten und besten Truppen verfügt, und so sind denn die Truppenführer und die Militärgouverneure der Provinzen, denen ein größeres Truppenaufgebot zur Verfügung steht, der ausschlaggebende Faktor in den hin und herwogenden Parteistreitigkeiten. Denn so weit ist es noch längst nicht gekommen, daß das chinesische, für die Bedürfnisse des Landes augenblicklich übrigens viel zu große Heer ein Werkzeug der Zentralregierung sei, vielmehr sind die einzelnen Truppenverbände in der Hand bestimmter Persönlichkeiten. Die sie im eigenen oder dem Machtinteresse ihrer Partei verwenden und zu dem Zweck dauernd zu vermehren streben. Alle Bemühungen einsichtiger chinesischer Patrioten, die Beschränkung der Anzahl der Truppen auf ein vernünftiges Maß zu erreichen, sind bis jetzt vor allem an dem Widerstande der Militärgouverneure gescheitert, die nicht gewillt sind, ihre Machtmittel aus der Hand zu geben, und so ist es denn gekommen, daß das dereinst von der Zentralregierung als Mittel zum Schutze und zur Stärkung geschaffene Reichsheer statt dessen ein Mittel zur Bereicherung geworden ist und daß die Zentralregierung, wenn es um Verfügung wenigstens über Teile des Reichsheeres handelt, dabei von dem guten Willen der Truppenführer abhängig ist.

Die Masse der Bevölkerung nimmt an den Interessen der Parteien und den Gründen ihrer gegenseitigen Bekämpfung keinen Anteil; sie kümmert sich überhaupt nicht um Politik, sehnt sich nur nach Ruhe und der Möglichkeit, ihrem Gewerbe oder Beruf ungestört nachzugehen. Man kann daher bei den jetzigen Streitigkeiten nicht von einer Spaltung des chinesischen Volkes in verschiedene Lager, noch weniger von einem Bürgerkrieg reden. Vielmehr ist das Volk gänzlich unbeteiligt, wie sich auch die Streitenden um die Interessen des Volkes und des Landes nicht kümmern.

Der Punkt, daß es sich bei den inneren Kämpfen Chinas im Grunde um weiter nichts als das Ringen um die Macht einzelner Personen oder Truppen handelt, kann nicht genug betont werden. Daraus erklärt sich auch, daß die Angehörigkeit zu irgendeiner Partei nicht notwendiger Weise die Lösung aller Verbindungen mit anderen mit sich zu bringen braucht, vielmehr wird immer ein Weg offengelassen werden, um, wenn es veränderter Umstände halber nützlich erscheint, den Weg zu den früheren Freunden wiederzufinden. Aus demselben Grunde hat z. B. der Umstand, daß eine Provinz sich für unabhängig erklärt, nicht unbedingt zur Folge, daß sie nun jede Verbindung mit der Zentralregierung abbricht; es können trotzdem sehr wohl Beziehungen fortdauern, so ist es sogar möglich, daß die widerspenstige Provinz die Autorität der Zentralregierung in gewissen Dingen anerkennt, was in der Regel dann der Fall sein wird, wenn es sich um Dinge handelt, wo die fremden Mächte ein Wort mitzureden haben, wie u. a. bei der Ablieferung der Zolleinnahmen. Es ist dies übrigens eine Erscheinung, die wir auch sonst ganz allgemein im chinesischen Charakter wahrnehmen: die Abneigung gegen starre Folgerichtigkeit und das Lavieren aus Rücksichten der Zweckmäßigkeit.

Ein besonders in die Augen fallendes Beispiel dafür, daß lediglich Macht und Einfluß angestrebt wird, ist der Umstand, daß der Stockrepublikaner Sun Wen, als er 1922 seine Strafexpedition gegen Peking vorbereitete, um die dortige Regierung mit Waffengewalt zu stürzen, sich nicht scheute mit dem Militärgouverneur Tschang Tsolin in Mukden in Bündnisverhandlungen zu treten, obwohl dieser soweit von demokratisch-republikanischer Gesinnung entfernt ist, daß er sogar in dem Rufe steht selbst nach dem Kaiserthrone zu streben. Zweck des Bündnisses sollte noch dazu sein, den als demokratischen Republikaner gerühmten Nordgeneral Wu Peifu vom Norden und Süden aus zu erdrücken, obwohl dieser seiner politischen Gesinnung nach Sun Wen nahestand und noch dazu zwei Jahre vorher im Bunde mit Tschang Tsolin die Anfu-Partei befragt hatte. Obwohl der Letztgenannte ferner allen Anlaß hatte, gegen die Japaner aufgebracht zu sein. Er hatte nicht verschmäht, sich heimlich mit ihnen in Verbindung zu setzen und von ihnen Unterstützung (insbesondere in Gestalt von Waffen) gegen seine eigenen Landsleute anzunehmen.

Diese Beispiele mögen genügen, um darzutun, daß bei den Machtkämpfen im modernen China von der Verteidigung höherer Ziele und Ideen nicht gesprochen werden kann, vielmehr reine Selbstsucht den Ausschlag gibt.

Der Machtkampf zwischen Norden und Süden begann unter der Präsidentschaft Yüan Shih kai's und hat sich bis in die neueste Zeit hingezogen, nur mit dem Unterschiede, daß, während der Süden immer eine mehr oder weniger geschlossenen Masse von bald größerem, bald geringerem Umfange bildete, je nach dem die eine oder die andere Provinz ihren Vorteil auf der einen oder der anderen Seiten oder ganz abseits zu finden meinte, der Norden selbst bald in sich untereinander befehende Gruppen zerfiel. Während so die einzige von den Mächten anerkannte Zentralregierung in Peking selbst immer mehr an Einfluß und Ansehen verlor, übt die eigentliche Herrschaft im Norden jedes Mal derjenige aus, der über die stärksten Truppen verfügt.

Der Gang der Ereignisse, der auf Grund der im Vorstehenden geschilderten Verhältnisse die heutigen Zustände allmählich herbeigeführt hat, war in aller Kürze folgender:

Nach dem Tode Yüan Shih kai's im Sommer 1916 wurde zunächst das von ihm 1913 aufgelöste Parlament wiederhergestellt und damit die Vorbedingung geschaffen, die Wiedervereinigung der einzelnen Reichsteile, die sich von der Zentralregierung losgesagt hatten, als Yüan Shih kai offen unter Verletzung des auf die provisorische Verfassung der Republik geleisteten Eides die Besteigung des Kaiserthrones betrieb. Doch brachte schon das nächste Jahr einen neuen ernsten Zwist: als es sich nämlich 1917 um die formelle Kriegserklärung gegen Deutschland handelte, auf der die Generäle bestanden, verlangte das um seine Autorität besorgte Parlament, das sich nicht ohne weiteres dem Diktat der militärischen Machthaber fügen wollte, auch durch umlaufende Gerüchte über ein geheimes Abkommen mit Japan mißtrauisch geworden war, Bedenkzeit und beruhigende Erklärungen der Regierung über eben diese Gerüchte. Die Antwort hierauf war die unter dem Druck der Generäle vom Präsidenten Li Yüan hung verfügte Auflösung des Parlaments, sodaß die im August 1917 erfolgte Kriegserklärung ohne Parlamentsmitwirkung zustande kam. Für die innere Politik Chinas hatte die Parlamentsauflösung die Folge, daß sich nunmehr der Süden unter Canton's Führung vom Norden formell lossagte und China von nun ab zwei Regierungen hatte: die von den Mächten allein als Zentralregierung des ganzen Reiches anerkannte Regierung in Peking und die Südregierung in Canton, an deren Spitze Sun Wen trat und deren Parlament die aus dem Süden kommenden Abgeordneten des aufgelösten Pekinger Parlaments angehörten.

Nachdem der von dem kaisertreuen General Tschang Hsün unternommene Versuch, die Mandschudynastie wiederherzustellen, gescheitert war, wurde 1918 im Norden ein neues Parlament gewählt, das aber vom Süden nicht anerkannt wurde, ebenso wenig wie der vom Nordparlament an Stelle des zur Zeit des monarchistischen Putsches zurückgetretenen Li Yüan hung gewählte Präsident der Republik Hsü Schih tschang. Zwischen dem Norden und Süden fanden fast dauernd Kämpfe statt. Auf den durch die fremden Mächte unterstützten Wunsch der chinesischen Kaufmannschaft wurden im ehemaligen deutschen Klub in Schanghai mehrere Friedenskonferenzen abgehalten, die indessen erfolglos verliefen, hauptsächlich weil der Süden verlangte, alle Mitglieder des 1917 aufgelösten Parlaments sollten wieder in ihre Rechte eingesetzt werden; zu diesem Zugeständnis war aber der Norden nicht zu bewegen, weil er befürchtete, daß damit wieder entschiedener südlicher Einfluß in das Parlament hineinkommen würde, und weil die Machthaber des Nordens nur ein ihnen gefügiges Parlament wünschten.

Im Norden hatte sich der Anfu-Klub unter Führung des Generals Tuan Kijui immer mißliebiger gemacht nicht nur wegen seiner Verbindung mit den in weiten Kreisen verhaßten Japanern, sondern auch, weil er den Präsidenten Hsü Schih tschang und damit die Zentralregierung vollkommen beherrschte. Das führte zu einer Koalition gegen ihn, an deren Spitze der politisch durchaus farblose, nur persönlich ehrgeizige Militärgouverneur in Tientsin, Tsao Kun, der Militärgouverneur Tschang Tsolin in Mukden und General Wu Peifu standen, ein Mann, der sich in den Streitigkeiten mit dem Süden durch weise Mäßigung ausgezeichnet, auf eine Versöhnung mit dem Süden hingearbeitet und den Ruf eines patriotischen Demokraten erworben hatte. Die Niederwerfung der Aufn-Truppen 1920 war hauptsächlich ihm zu danken. Den Gipfel erreichte seine Macht und Popularität, als es ihm zwei Jahre darauf gelang, seinen ehemaligen Verbündeten Tschang Tsolin auf das Haupt zu schlagen, der nach Beseitigung des Anfu-Klubs nun seinerseits den Präsidenten und die Regierung in Peking beherrschte und eine so übermütige Haltung einnahm, als ob er der Herr Nordchinas sei. Er wird auf Veranlassung seines Besiegers seines Amtes als Militärgouverneur der drei mandschurischen Provinzen ersetzt, was er damit beantwortete, daß er diese für unabhängig erklärt.

Inzwischen hatte sich Sun Wen im Mai 1922 zum Präsidenten der ganzen Republik ausrufen lassen und unternahm sodann seine "Strafexpedition" gegen Peking. Diese kam aber in Mittelchina zum Stehen und mußte abgebrochen werden. Er selbst kehrte nach Canton zurück, konnte sich jedoch auch mit Hilfe der ihm treu gebliebenen Flotte dort nicht halten; denn sein früherer Kriegsminister Tschen Kiung ming, der auf die Strafexpedition gegen den Norden nur mit Widerstreben eingegangen war, teils, weil er an ihren Erfolg nicht glaubte, teils, weil er Sympathien für General Wu Peifu hatte, hatte sich schließlich Sun Wen derart überworfen, daß er, nach Canton vorausgeeilt, diesem den Eintritt in die Stadt mit Gewalt verwehrte, sich selbst zum Herrn in Canton machte und es so erreichte, daß Sun Wen sich schließlich nach Schanghai zurückzog, wo er mit seinem immer noch sehr zahlreichen Anhange an der Weiterverfolgung seiner Ziele arbeitete. Einige Zeit darauf hat einer der Sun Wen treu gebliebenen Generäle die Nachbarprovinz Fukian erobert mit der augenscheinlichen Absicht, von dort aus die Wiedergewinnung Canton's zu betreiben.

So zerfällt denn das eigentliche China vorläufig in folgende getrennte Teile:

  1. Der Norden mit den zu ihm haltenden Provinzen und dem Sitze der allein von den Mächten anerkannten Zentralregierung in Peking. Die herrschende Persönlichkeit ist hier Wu Peifu, der populäre Besieger der Anfu-Partei und Tschang Tsolins, der sich auch der Sympathien Englands und Amerikas erfreut. Für sein Hauptziel erklärte er die Wiedervereinigung des Südens mit dem Norden, weshalb er, um dem Süden entgegenzukommen, zunächst die Abdankung des Präsidenten Hsü Schihtschang veranlasste und Li Yüan hung bewog den Präsidentenstuhl wieder zu besteigen. Denn dieser erfreut sich wegen seines lauteren Charakters und seiner unzweifelhaft republikanischen Gesinnung auch bei den Südleuten eines großen Ansehens, die ihm sogar Dinge, wie die Parlamentsauflösung 1917 verzeihen, weil sie unter dem über mächtigen Druck der Generäle erfolgte.

  2. Die von Tschang Tso lin für unabhängig erklärten drei mandschurischen Provinzen.

  3. Der Bereich der mit Sun Wens Flucht zusammengebrochenen ehemaligen Canton-Regierung. In Canton selbst herrscht General Tschen Kiung ming. Wie weit sein Herrschaftsbereich sich erstreckt, ist zur Zeit von hier aus nicht zu sagen, nicht einmal, ob die Nachbarprovinz Kwangsi dazugehört. Fest steht nur, daß Fukien unter seinen gegenwärtigen Machthabern zu Sun Wen hält [1]. Bisher sind noch keine Anzeichen dafür vorhanden, daß Tschen Kiung ming die Wiedervereinigung mit dem Norden anstrebt, wenn auch hin und wieder verlautet hat, er sei einer solchen nicht abgeneigt unter gewissen Voraussetzungen, zu denen die Staatsform eines Bundes der autonomen Provinzen gehöre, eine Staatsform, die der Süden im Allgemeinen seit einiger Zeit in sein Programm aufgenommen hat.

So haben sich denn die Hoffnungen, daß es Wu Peifu gelingen würde, die Reichseinheit wieder herzustellen, bisher nicht erfüllt, ja die Spaltung hat durch die Lostrennung der Mandschurei noch zugenommen und dadurch ist das Einigungswerk erheblich erschwert worden, denn wenn es nicht gelingt, Tschang Tsolin freiwillig zum Verzicht auf seine Unabhängigkeit zu bewegen, wozu zur Zeit nur geringe Aussicht besteht, dann wird es schwer, wenn nicht vielleicht unmöglich sein, ihm mit Waffengewalt beizukommen, besonders wenn er sich auch fernerhin der heimlichen Unterstützung durch Japan versichert. Im Übrigen macht sich mit Bezug auf Wu Peifu auch sonst in weiten Kreisen des Nordens eine starke Enttäuschung wahrnehmbar, die seiner bisherigen Popularität starken Abbruch tut, vornehmlich, weil er selbst nicht einmal mit der Verminderung seiner Truppen begonnen hat, sondern sie sogar vermehrt und weil er seine ursprüngliche Zusage, sich in die Angelegenheiten der Zentralregierung nicht einzumischen, nicht eingehalten hat. Das Mißtrauen, daß seine früher zu Schau getragene demokratische Gesinnung entweder nicht ganz echt gewesen oder doch von dem Machtrausche erstickt worden sein, greift immer weiter um sich. Die Militärgouverneure im Norden denken gar nicht daran, die Bedingung der Abschaffung dieser Posten und der Truppenminderung zu erfüllen, an die Li Yüan hung die Annahme der Präsidentschaft geknüpft hatte. Sowohl der Präsident wie die Zentralregierung sind machtlos, ihr Einfluß reicht nicht weit über den Umkreis der Hauptstadt hinaus. An Geld fehlt es ihr für die dringendsten Bedürfnisse. Kabinettswechsel sind an der Tagesordnung.

Von allen diesen unerfreulichen Erscheinungen bleibt das chinesische Volk unberührt, sofern der einzelne Volksgenosse nicht in irgendeiner Weise direkt in Mitleidenschaft gezogen wird. Das chinesische Volk ist überhaupt von jeher in seinem Berufs- und Geschäftsleben in viel höherem Grade als irgendein anderes Volk der Welt frei von den Einwirkungen seiner Regierung oder seiner Machthaber gewesen, und so geht auch jetzt in diesen wirren Zeitenhandel und Wandel seinen gewohnten Gang, soweit nicht etwaige Kämpfe und daß infolge der unsicheren politischen Verhältnisse in einigen Provinzen furchtbar grassierende Räuberunwesen den Verkehr tatsächlich unterbinden.

Daß bei den geschilderten Zuständen an eine ersprießliche Verwaltungstätigkeit und regierungsseitige Förderung der materiellen und geistigen Volkswohlfahrt nicht gedacht werden kann, ist selbstverständlich. Dem würden bei sonst vorhandenem gutem Willen schon die leeren Regierungskassen entgegenstehen. Die innere Politik

Chinas kann man daher füglich zur Zeit als etwas überhaupt nicht Vorhandenes bezeichnen. Denn die Machtkämpfe haben mit eigentlicher Politik nichts zu tun.

In der äußeren Politik hat China in der ganzen Zeit vermöge seiner Schwäche naturgemäß in der Hauptsache lediglich eine passive Rolle gespielt. In seiner neuesten Geschichte ist es ja überhaupt mehr oder weniger nur außenpolitisches Objekt gewesen als Betätigungsfeld des Wettstreits zwischen den einzelnen Mächten, von denen jede eifersüchtig darüber wacht, daß keine andere sich einen Eingriff in ihre Interessensphäre gestattet. Insbesondere ist es die Politik der ausländischen Eisenbahnkonzessionen, die ein schier unentwirrbares Netz fremder Interessen über das Land ausspannt und auch in normalen Zeiten die freie Entschließung der chinesischen Regierung behindert. Im Vorbeigehen sei hier daran erinnert, daß diese Eisenbahnpolitik im Sommer 1911 zu den großen Unruhen in der Provinz Szetschwan führte, die der Vorläufer der Revolution im Oktober desselben Jahres waren.

In dem uns beschäftigenden Zeitraum ist China außenpolitisch nur in zwei Fällen selbsthandelnd aufgetreten, einmal gegen Deutschland, das andere Mal gegen Rußland.

Nachdem nämlich Amerika im Frühjahr 1917 die Beziehungen zu Deutschland abgebrochen und die chinesische Regierung aufgefordert hatte, ein Gleiches zu tun, bestand unter den Chinesen keine Neigung zu Deutschlands Feinden überzugehen, weder unter den Generälen, von denen viele ihre militärische Ausbildung in Deutschland genossen hatten, und die alle voll Bewunderung für die gewaltigen Leistungen Deutschlands im Kriege waren, noch unter den Kaufleuten, die den deutschen Kaufmann schätzen und in jeder Beziehung seinem englischen Konkurrenten vorziehen. Auch wünschte anfangs Japan kein Heraustreten Chinas aus seiner Neutralität, dass diesem eventuell das Recht verliehen hätte, neben Japan am Friedenskonferenztische zu sitzen und seine Ansprüche auf das von Japan in Besitz genommene ehemalige deutsche Pachtgebiet in Schantung zu vertreten. Auch war Japan die Seitens der Entente China für dessen Beitritt in Aussicht gestellte Erhöhung des (Seite 125) Zolltarifs unerwünscht. Trotzdem gelang es der Entente unter Aufbietung gewaltiger Geldmittel und durch lockende Versprechungen, wie Stundung der Boxerentschädigungen für eine Reihe von Jahren, Erhöhung des Zolltarifs, Abänderung des Schlußprotokolls von 1901 u. dgl., wenigstens im offiziellen China einen Stimmungsumschlag zu ihren Gunsten herbeizuführen, der noch dadurch erleichtert wurde, daß China die Hoffnung hingehalten wurde, wieder in den Besitz des ehemaligen deutschen Pachtgebietes in Schantung zu kommen. Großen Einfluß auf die schließlich gegen Deutschland gerichtete Entscheidung hatte übrigens die Agitation des vorerwähnten Hauptes der Fortschrittspartei Liang Ki tschau, wohl des glänzendsten Geistes unter den modernen Chinesen. Er wies darauf hin, jetzt sei eine nie wiederkehrende Gelegenheit für China gekommen, aus seiner schwächlichen Zurückhaltung in der Weltpolitik herauszutreten und durch aktive Teilnahme an dem größten weltgeschichtlichen Ereignisse sich seine Stellung unter den Völkern zu sichern. Daß er an die Richtigkeit der von ihm empfohlenen Politik glaubte und nicht etwa durch Übelwollen gegen Deutschland dazu veranlaßt wurde, kann daraus geschlossen werden, daß er sich bis dahin stets als Bewunderer Deutschlands gezeigt und nicht lange nach Ausbruch des Krieges ein viel gelesenen Buch verfaßt hatte, in welchem er den schließlichen Sieg Deutschlands für wahrscheinlich ansah. Japan wurde von der Entente durch das heimliche Versprechen gewonnen, ihm seinen Besitzstand in Schantung auf der Friedenskonferenz zu erhalten. So folgte denn der Abbruch der Beziehungen mit Deutschland im März 1917. Der im August 1917 ausgesprochenen Kriegserklärung gegen Deutschland schloß sich die inzwischen in Canton konstituierte Südregierung nicht an, hauptsächlich, weil sie befürchtete, die Kriegserklärung würde dem Norden noch größere Macht in die Hände geben. Tatsächlich wurde auch mit Hilfe einer vom Ministerpräsidenten General Tuan Kijui mit Japanern abgeschlossenen größeren Anleihe (der später oft genannten Nishihara-Anleihe, über die schon lange Gerüchte umliefen und betreffs derer, wie oben erwähnt, das Parlament Erklärungen von der Regierung gefordert hatte) eine chinesische Sonderarmee ausgerüstet und von japanischen Instrukteuren ausgebildet, die für den europäischen Kriegsschauplatz bestimmt war. Der 1918 in Europa abgeschlossenen Waffenstillstand ließ es zur Teilnahme dieser Armee auf dem europäischen Kriegsschauplatz nicht mehr kommen; sie fand statt dessen Verwendung zwecks Wiedereroberung der äußeren Mongolei. Für Deutschland hatte der Krieg die Folgen des Außerkrafttretens sämtlicher zwischen ihm und China bestehender Verträge, der Beschlagnahme und teilweise Liquidierung des in China befindlichen deutschen Eigentums, der Entlassung sämtlicher Deutschen aus dem chinesischen Staatsdienst und der Ausweisung fast aller Deutschen aus China. China selbst erlebte die große Enttäuschung, daß die (Seite 126) ehemaligen deutschen Rechte in Schantung auf dem Friedenskongreß Japan zugesprochen wurden, sah sich somit in seiner größten Hoffnung betrogen, gewissermaßen von Amerika, auf dessen Chinas Ansprüchen förderlichen Einfluß es vertraut hatte, verraten und zog sich grollend aus Versailles zurück, ohne den Friedensvertrag mit unterzeichnet zu haben. Die Enttäuschung hatte eine ungeheure Aufregung zur Folge, die sich in tätlichen Angriffen auf einige von der Bevölkerung des landesverräterischen Zusammengehens mit Japan beschuldigte höhere Beamte und in einem allgemeinen Boykott japanischer Waren Luft machte. Zu seinem Rechte in Schantung ist China erst auf dem Wege über die Konferenz in Washington gekommen, hat aber von Japan während der Zeit seiner Okkupation in Schantung gemachten Aufwendungen und Verbesserungen erhalten.

Durch die deutsch-chinesische Vereinbarung vom Jahre 1921 sind die regulären Beziehungen wiederhergestellt. Die wichtigste Bestimmung darin ist der deutsche Verzicht auf das Recht der Exterritorialität und der Konsular-Gerichtsbarkeit. Die Südregierung hat dieses mit Peking geschlossene Abkommen nicht anerkannt, und trotz aller zur Schau getragenen und zweifellos ehrlich gemeinten Sympathien für Deutschland stellte sich Sun Wen auf den Standpunkt, es bedürfe zur Wiederherstellung regulärer Beziehungen zwischen seiner Regierung und Deutschland eines besonderen Vertrages zwischen beiden, da ja das Cantoner Parlament, dessen Mitglieder im Frühjahr 1917 noch dem Pekinger Parlament angehört hatten, bei dem damaligen Abbruch der Beziehungen mit Deutschland mitgewirkt habe.

Als politischer Faktor ist Deutschland zur Zeit natürlich in China vollständig ausgeschaltet. Der Unternehmungsgeist und Fleiß der deutschen Kaufmannschaft und Industrie hat es aber vermocht, trotz aller Schwierigkeiten und Hemmnisse den geschäftlichen Beziehungen zu China bereits wieder einen solchen Umfang zu geben, daß sich schon längst wieder Stimmen des Neides im feindlichen Lager vernehmen lassen und sich erkennen läßt, daß die früheren freundlichen Gefühle der chinesischen Bevölkerung zu den Deutschen durch die Kriegs- und Nachkriegsereignisse keinen wesentlichen Abbruch erfahren haben. Dasselbe bestätigte mir der mir von Peking her befreundete ehemalige Minister Tschou Tze chie, der jetzt einige Tage in Berlin war und der mir während einer längeren Unterhaltung neulich den Wunsch aussprach, die Deutschen möchten bei jeder Gelegenheit ermutigt werden, mit China in geschäftliche Beziehungen zu treten, sie würden von seinen Landsleuten mit offenen Armen aufgenommen werden.

Nach dem Sturz der russischen Zarenregierung blieb das Verhältnis der russischen Gesandtschaft in Peking zur dortigen Regierung zunächst gänzlich unverändert. Letztere stellte bereitwillig den russischen Anteil der Boxerentschädigung dem russischen Gesandten zur Verfügung, der daraus die russischen Vertretungen in China und Japan bezahlte und im Übrigen mit der chinesischen Regierung weiter verhandelte, als ob noch eine Regierung hinter ihm stände, während das in Wirklichkeit nicht der Fall war. Da schlug im September 1920 wie eine Bombe ein Präsidialerlaß ein, der die Beziehungen zur russischen Gesandtschaft abbrach, die russische Konsulargerichtsbarkeit aufhob und die in China lebenden Russen der chinesischen Gerichtsbarkeit unterstellte. Zum äußeren Anlaß war ein an sich belangloser Vorfall genommen worden. Worauf es China ankam, war, die erste Bresche in die Mauer der Exterritorialität der Fremden zu schlagen, daher die Wut der fremden, besonders der englischen Presse. Die chinesische Regierung ließ sich aber nicht irre machen, und der russische Gesandte reiste ab.

Offizielle Beziehungen zur russischen Räteregierung bestehen noch nicht, Annäherungen haben aber bereits stattgefunden. Zunächst suchte die Republik des Fernen Ostens in Tschita, die zur Moskauer Regierung in engen Beziehungen stand (und die seit ganz kurzem mit der letzteren vereinigt ist), Verbindung mit der chinesischen Regierung anzuknüpfen, indem sie Jurin zu Verhandlungen nach Peking entsandte, der aber noch nichts erreichte und nach Tschita zurückkehrte, nachdem er dort zum Minister des Aeußeren ernannt worden war. Von China selbst wurde eine Militärmission nach Moskau entsandt, um mit den Russen Fühlung zu nehmen, weil der chinesischen Regierung an einer Auseinandersetzung über die Verhältnisse in der äußeren Mongolei lag, wo die Bolschewisten sich heimisch gemacht hatten.

Vor einigen Monaten hat die Moskauer Regierung den von Berlin her bekannten Joffe nach Peking geschickt. Dort entfaltete er eine so rege Tätigkeit, daß er die Mehrzahl der Studenten an der Pekinger Universität bereits für seine Ideen gewonnen hat, was wiederum die Folge hatte, daß der Leiter der Universität Tsai Yüan pei (ein Gelehrter, der in jüngeren Jahren längere Zeit in Deutschland studierte, während des Krieges aber eine Zeit lang in Frankreich gelebt hat und dort gänzlich französischen Einflüssen zugänglich geworden ist), äußerlich wenigstens bolschewistische Sympathien zur Schau trägt. Joffe's Bestreben ist vornehmlich darauf gerichtet, China zur Anerkennung der russischen Räteregierung zu bewegen. Er hat bereits insofern einen gewissen Erfolg zu verzeichnen, als Mitglieder des Pekinger Parlaments schon vor längerer Zeit den Antrag auf Anerkennung der Räteregierung gestellt haben und daraufhin die chinesische Regierung eine Kommission zum Studium dieser Frage eingesetzt hat. Neuerdings verlautet, Joffe habe der chinesischen Regierung in einer Note erklärt, Rußland sei Willens, China ohne Entschädigung alles das zurückzugeben, was sich die frühere zaristische Regierung angeeignet (Seite 128) hätte, unter der Bedingung, daß China alle früheren russischen Konsuln ausweise, ferner hebe Rußland alle Privilegien auf, deren russische Firmen sich früher in China erfreut hätten. Alle Nachrichten lassen darauf schließen, daß er geschickt zu Werke geht und seinem Ziel vielleicht nicht mehr fern ist.

Im Ganzen konnte, wie gesagt, Chinas außenpolitische Rolle nur eine passive sein, schon deshalb, weil es trotz der großen Reichtümer des Landes wegen der erzwungenen Aufgabe seiner Zollautonomie in finanzieller Beziehung zur Zeit noch stets vom guten Willen des Auslandes abhängig ist. In Frage kommt hier allein die Nordregierung in Peking, die vom Auslande stets als die Zentralregierung des ganzen Reiches anerkannt war, während Sun Wen's Verlangen nach Anerkennung seiner eigenen Regierung niemals Beachtung fand. Das hat ihn besonders gegen England in einer Weise aufgebracht, daß die Behauptung, er habe seine Hand bei dem die englischen Schiffahrtsinteressen empfindlich schädigenden Seemannsstreik in Hongkong im Spiele gehabt, auf Wahrheit beruhen dürfte. Seine Verstimmung gegen die Engländer war umso größer, als er sich zur Zeit der Revolution von 1911 ihrer Sympathien erfreut hatte. England war damals zunächst gewillt gewesen die Monarchie zu stützen, und erst ein Bericht des englischen Generalkonsuls in Schanghai, der seiner Regierung auseinandersetzte, daß die Interessen Englands in China unter einer Republik größere Entwicklungsaussichten hätten als unter der Monarchie, brachte in England den Stimmungsumschwung zu Gunsten der Republik zustande, was zur Folge hatte, daß die von der chinesischen Regierung zur Bekämpfung der Revolution benötigte fremde Anleihe verweigert wurde und damit die Sache der Monarchie verloren ging. Hatte England zu Beginn der Republik aus diesen Gründen mit seinen Sympathien auf Sun Wen's Seite gestanden, so nahm es, sobald Yüan Schih kai zum Präsidenten gewählt war, dessen Partei und hielt insbesondere auch zur Zeit seiner Rivalität mit Sun Wen zu jenem, was übrigens, von den aus der Zeit ihrer amtlichen Tätigkeit in Korea herstammenden persönlichen Beziehungen des englischen Gesandten zum Präsidenten ganz abgesehen, schon deswegen begreiflich erscheint, weil Yüan Schih kai sich bei den Fremden den Ruf eines klugen und tatkräftigen Staatsmannes erworben hatte, während Sun Wen vielfach, ob mit Recht oder Unrecht bleibe dahingestellt, als unpraktischer Phantast beurteilt wurde. Er hat es den Engländern niemals vergessen, daß sie ihn beiseiteschoben, und die abfällige Weise, in der sich gerade in letzter Zeit die englische Presse in China über ihn zu äußern sich angewöhnt hatte, hat ihn aufs höchste gereizt. Er ist zwar vorläufig von der offiziellen Bühne abgetreten, verfügt aber noch über einen großen Anhang unter den Chinesen und gibt seine Sache keineswegs verloren, sodaß mit Bestimmtheit anzunehmen (Seite 129) ist, daß seine politische Rolle noch lange nicht ausgespielt ist[2].

Daß das politische Ansehen Englands in China durch die schwächliche Haltung, die es an den imperialistischen französischen Anmaßungen in der übrigen Welt gegenüber einnimmt, herabgedrückt wird, darf nicht verwundern. In China selbst haben die Franzosen niemals eine hervorragende Rolle gespielt. Wenn sie einmal besonderen Anlaß geben, von sich reden zu machen, war der Anlaß in der Regel ein für sie höchst ungünstiger. Gerade den französischen Missionaren haben die Chinesen stets in erster Linie den Vorwurf gemacht, daß sie sich in China so aufführten, als ob sie Agenten ihrer Regierung mit der Aufgabe seien, das Ansehen der chinesischen Behörden in den Augen der chinesischen Bevölkerung im egoistischen Interesse des Heimatstaates zu untergraben. Peinliches Aufsehen selbst bei den Verbündeten der Franzosen erregte während des Krieges zu Beginn des Jahres 1917 der Vorfall von Laohsikai in Tientsin. Dort hatte auf Anordnung der französischen Vertretung das französische Konsulat China gehöriges Gelände besetzt und die darauf postierten chinesischen Polizisten verhaftet, angeblich, weil das betreffende Gebäude früher einmal chinesischerseits den Franzosen zur Vergrößerung der französischen Niederlassung versprochen worden war. Der Vorfall führte zur vollkommenen Boykottierung der französischen Niederlassung und verursachte eine ungeheure Aufregung. Es hat sehr lange gedauert, bis er eine friedliche Erledigung fand. Der Zusammenbruch der Banque industrielle de Chine, bei dem große Summen chinesisches Kapital verloren gingen und der unter verdächtigen Umständen erfolgte, hat auch nicht dazu beigetragen, das französische Ansehen zu heben, während die neuerliche ostentative Annäherung Frankreichs an Japan auch schwerlich dazu dient, französische Sympathien in China zu wecken.

Der gefährlichste Konkurrent Englands in China ist zur Zeit zweifellos Nordamerika. Nicht nur hat dieses in den Augen der Chinesen den unschätzbaren Vorzug, daß es im Gegensatz zu den anderen Mächten niemals einen Fußbreit chinesischen Bodens verlangt oder besetzt hat und daß es keine nennenswerte amerikanische Fremdenniederlassung in China gibt, sondern es hat noch dazu im Jahre 1908 den klugen Schritt getan, China die beträchtliche Summe von über 10 Millionen mex. Dollars der Amerika im Schlußprotokoll von 1901 zugesprochenen Boxerentschädigung mit der Bedingung zu erlassen, daß dieses Geld für das Studium junger Chinesen in Amerika verwendet werde. Zu diesem Zweck wurde 1911 außerhalb von Peking der unter dem Namen Chinghua College bekannte große Schulkomplex als Vorbereitungsanstalt für die (Seite 130) nach Amerika zu entsendenden chinesischen Studenten errichtet, wo sie von amerikanischen Lehrkräften für den Besuch amerikanischer Universitäten vorgebildet werden. Damit hat sich Amerika großen politischen Einfluß gesichert, da fast alle die so vorgebildeten Chinesen später chinesische Beamte werden und voller Sympathie für Amerika von dort zurückkommen. Schon jetzt ist ein großer Prozentsatz der in amtlicher Stellung ausübenden jüngeren chinesischen Intelligenz auf amerikanischen Universitäten ausgebildet und trägt so zum Überwiegen amerikanischer Sympathien in Regierungskreisen bei. Auch auf andere Weise haben es die Amerikaner verstanden, sich bei den Chinesen in den Ruf uneigennütziger Menschfreunde zu bringen. So hat der Petroleumkönig Rockefeller 1918 eine große Summe zur Verfügung gestellt, von der das Peking Medical College, ein mit allen modernen Einrichtungen versehenes großes Krankenhaus, verbunden mit Lehrstühlen für Medizin, gegründet wurde. Eine Unzahl im ganzen Land verstreuter Missionare gibt sich nicht so sehr mit der Gewinnung neuer Christen als vielmehr mit der Unterweisung in den elementaren Fächern des allgemeinen Wissens und nützlichen Fertigkeiten gegen ein nur sehr geringes Entgelt, selbst in den abgelegensten Dörfern, ab. Schließlich unterhält Amerika ein wirksames Propagandermittel in den auf das modernste ausgestatteten Palästen der Young Men's Christian Association, in denen unter anderem Lichtbildervorführungen den Chinesen einen anschaulichen Begriff von Amerika und seinen Vorzügen beibringen soll. Solange die Republik besteht, hat es niemals ernste Reibungen zwischen China und Amerika gegeben. Unter diesen Verhältnissen ist es nicht zu verwundern, wenn sich das moderne China daran gewöhnt hat, in Amerikas seinen selbstlosen Freund und Beschützer zu sehen, dabei die Enttäuschungen, die es seitens Amerikas, besonders in Versailles mit Bezug auf die Schantung-Frage und auch in dem Ausbleiben amerikanischer finanzieller Unterstützung, erfahren hat, vergißt und auch sonst zuweilen Dinge übersieht, die geeignet sein könnten Zweifel an Amerikas Uneigennützigkeit zu erwecken. Jedenfalls ist Amerikas Stellung gegenwärtig in China derartig, daß aller Voraussicht nach in absehbarer Zeit keine Nation ihm den Rang wird ablaufen können.

Ganz anders ist das Verhältnis zwischen Japan und China. Seitdem Japan im Kriege 1894/95 China so gründlich und schnell besiegt hat, haben alle seine Handlungen China gegenüber erkennen lassen, daß es die Vorherrschaft in Ostasien anstrebt und China dauernd schwach zu halten wünscht, um sein Ziel ohne Schwierigkeiten zu erreichen. Den Höhepunkt bilden die im Jahre 1915 von Japan der Regierung Yüan Schih kai's vorgelegten berüchtigten 21 Forderungen, die Eingriffe in Chinas Selbständigkeit enthielten wie sie bis dahin einem unabhängigen Lande niemals zugemutet worden waren.

Gewiß mag manche der vielen Herausforderungen China (Seite 131) gegen die bessere Einsicht der japanischen Regierung und nur unter dem Drucke einer übermächtigen Militärpartei geschehen sein, doch hat die Regierung jedes Mal die ungerechten Forderungen an China vertreten, wie sie es ja auch war, die den zweifellos militärischen Köpfen entsprungenen 21 Forderungen der chinesischen Regierung übergab. Japan, dem sich bald nach dem japanisch-chinesischen Kriege die Chinesen trotz der ihnen von Japan erteilten bitteren Lektion in Erkenntnis ihrer Schwäche als dem angeblich rassenverwandten Brudervolke zuwandten und wohin jährlich tausende junger Chinesen strömten, um sich so auf die bequemste und billigste Weise durch japanische Vermittlung die Errungenschaften westlichen Könnens anzueignen, denen Japan seinen Sieg verdankte, hätte sich zweifellos auf friedlichem Wege mit der Zeit den Einfluß in China sichern können, nach dem es strebte, wenn nicht die Faust einer unschuldigen Militärpolitik, die rasch zum Zuge kommen wollte und in den Chinesen nur wehrlose Schwächlinge sah, diese friedliche Entwicklung rauh gestört und mit einem Male die Mehrzahl der Chinesen aus vertrauensvollen Freunden zu erbitterten Feinde gemacht hätte. Die Erregung in China war zweitweise so groß, daß sie zu ausgedehnten Boykotts japanischer Waren führte, die den japanischen Handel empfindlich schädigten und diplomatische Vorstellungen der japanischen Regierung veranlaßten. In Parenthese und als Beispiel für chinesischen Humor und Erfindungsgeist sei hier angeführt, daß, als auf japanisches Verlangen ein Verbot gegen die Inschrift "boykottiert japanische Waren!" auf den von den Teilnehmern an großen Demonstrationszügen in den Händen getragenen Fähnchen erging, an ihre Stelle die Worte traten "boykottiert minderwertige Waren!", gegen die formell nichts einzuwenden war.

In den Parteikämpfen in China hat Japan immer irgendeine Partei unterstützt, nicht etwa, um der einen odeer der anderen Sache zum Siege zu verhelfen, sondern nur, damit China nicht zur Ruhe kommen und sich innerlich kräftigen und widerstandsfähig machen könne. So bildet Japan bisher tatsächlich mit eines der Hindernisse, die vorläufig einer Beruhigung der chinesischen Verhältnisse entgegenstehen. Ob es, wenn es nicht selbst von seiner bisherigen Politik der beabsichtigten Schwächung Chinas abgeht, von den einer ruhigen Entwicklung Chinas interessierten Handelsvölkern mit Gewalt dazu gezwungen werden kann, erscheint fraglich. Wahrscheinlich wird aber der kürzlich vollzogene Anschluß der Republik des Fernen Ostens und Wladiwostoks an die Moskauer Regierung, der den Machtbereich der letzteren wieder bis zum Stillen Ozean ausdehnt, nicht ohne Einfluß auf Japans Haltung China gegenüber bleiben. Anzeichen, daß Japan einlenkt, sind auch sonst vorhanden. Wird es, wenn es wirklich eine friedlichere Politik gegen seinen Nachbarn einschlägt, das verlorene chinesische Vertrauen wiedergewinnen?

(Seite 132) Mag dem nun sein wie es wolle, an Chinas Zukunft brauchen seine Freunde nicht zu verzweifeln. Es hat schon schlimmere Zeiten durchgemacht und alle Katastrophen überstanden, die gewöhnlich nach jahrelangen Kämpfen damit endeten, daß der Sieg das ganze Land unter seiner Herrschaft wiedervereinigte. Allerdings war China in der Vergangenheit insofern in einer günstigeren Lage, als es frei und von außen unbehindert war, während es heute nicht mehr ganz so frei in seinem eigenen Hause schalten kann, in seiner Bewegungsfreiheit durch ein Netz von Verträge eingeengt und für die augenblicklichen Bedürfnisse in finanzieller Hinsicht stark vom Auslande abhängig ist. Diesem Nachteil steht aber wieder der Vorteil gegenüber, daß das Ausland ein erhebliches Interesse an einer friedlichen Entwicklung Chinas hat. Den Gedanken einer Aufteilung Chinas durch die Fremden, der noch gegen Ende des vorigen Jahrhunderts ventiliert werden konnte, hegt heute wohl im Ernst niemand mehr. Die Gefahr, daß China auf die Dauer von selbst zerfällt, ist bei der trotz mancherlei lokaler Unterschiede unzweifelhaften Gleichartigkeit des chinesischen Volkskörpers, der gemeinsamen alten Kultur und Schrift verschwindend gering. Es ist vielmehr anzunehmen, daß die jetzt noch ohne ideale und ethische Gründe politisch getrennten Teile sich mit der Zeit doch wieder zusammenfinden und eine neues geeintes China ersteht, zumal, wie wir gesehen haben, die in China wogenden Parteikämpfe keine Resonanz im chinesischen Volke haben und keiner der Kämpfenden auf Unterstützung seitens der Bevölkerung rechnen kann. Noch bis zum Ende des vorigen Jahrhunderts konnte politisch von einem gemeinsamen chinesischen Empfinden keine Rede sein; noch damals fühlten sich die einzelnen Provinzen des Reiches als in sich abgeschlossene Einheiten mit eigenen Interessen, die mit den Interessen der Nachbarprovinzen nichts gemein hatten. So wurde damals der Krieg gegen Japan nicht als ein Krieg Chinas, sondern der Provinz Tschihli und ihres Generalgouverneurs Li Hungtschang empfunden, der das übrige China nichts anging. Charakteristisch hierfür ist die bekannte Geschichte des Kommandanten eines chinesischen Kanonenboots der Canton-Flotte, der sich mit seinem Boot zufällig in Weihaiwei befand, als die chinesische Flotte sich den Japanern ergeben mußte, und der allen Ernstes von den Japanern seine und seines Kanonenbootes Freilassung verlangte, da er mit dem Kriege des Nordens nichts zu tun habe. Und doch war damals China ein geeintes Reich unter einem Kaiser. Inzwischen ist in dieser Beziehung eine gewaltige Änderung eingetreten. Heut existiert trotz der dem Beschauer sich bietenden politischen Zerrissenheit ein Zusammengehörigkeitsgefühl des ganzen chinesischen Volkes. Am deutlichsten kam das zum Ausdruck bei der Entrüstung über die Schantung betreffende Entscheidung von Versailles und den sich daran anschließenden großen Boykott gegen Japan. Trotz der Spaltung des Reiches ging die Entrüstungs- und (Seite 133) Boykottwelle mit gleicher Stärke durch das ganze Land. Wer aber auf Chinas bedrängte finanzielle Lage hinweist, mag bedenken, daß das Land noch ungemessene natürliche Reichtümer birgt, die nur der Hebung harren, daß der notwendige Ausbau seines Eisenbahnnetzes ungeheure Einnahmen und eine gewaltigen wirtschaftlichen Aufschwung großer Landstrecken bringen wird, daß allein eine Reform der Grundsteuern China beinahe in den Stand setzen würde, seiner ausländischen Verbindlichkeiten mit einem Schlage ledig zu werden, daß China bis heut fast so gut wie gar keine Steuern kennt und schließlich, daß die Schulden Chinas etwa 3 mex. Dollars auf den Kopf der Bevölkerung ausmachen. Kein anderes Land in der Welt hat so günstige Zukunftsbedingungen aufzuweisen.

Abschrift durch Eckhard Hoffmann im Januar 2016

 


[1] Seitdem der Vertrag gehalten worden ist, haben sich die Verhältnisse in Canton insofern verändert, als Sun Wens Anhänger von Knangsi aus einen Angriff auf Canton unternommen und Tscheu Hiung ming von dort verdrängt haben, sodaß Canton wieder dem Einfluß Sun Wens unterworfen ist. Dieser beabsichtigt daher wieder dorthin zurückzukehren. Es hieß vor kurzem einmal, er sei schon dorthin abgereist, doch wurde die Nachricht bald darauf widerrufen.

[2] Tatsächlich ist er inzwischen wieder in den Besitz Canton's gekommen, wo er vermutlich seine im vorigen Jahre zusammengebrochene Südregierung wieder einrichten wird.